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Marshmallow-Test und Selbststeuerung?

Selbststeuerung bei Kindern.


(aktualisiert 3.7.2018) Die Selbststeuerung oder auch Selbstregulation bleibt ein beliebtes Forschungsthema in den Neurowissenschaften.

Der Freiburger Neurobiologe Joachim Bauer veröffentlichte 2015 sein Buch mit dem Titel "Selbststeuerung - Die Wiederentdeckung des freien Willens". Das Buch ist eine Ode daran, Anstrengungen auf sich zu nehmen für längerfristigen persönlichen Erfolg und erfüllende soziale Beziehungen. Die Mai-Ausgabe der Zeitschrift Eltern widmete 2015 eine ganze Seite dem Interview mit ihm. Verena Carl entlockte Joachim Bauer einige Einblicke in sein neues Werk (2).

Fehlende Selbstkontrolle löst Stress aus und steht Schulerfolg im Weg...

Doch wozu benötigen wir Selbststeuerung als Verhalten? Fehlende Selbststeuerung führt zwangsläufig zu Stress: Informationen treffen uns ungefiltert, unsere Aufmerksamkeit wandert von einem zum nächsten Thema genauso wie unsere Wünsche. Zudem ist es ohne Selbststeuerung kaum möglich, mittel- oder langfristige Ziele zu erreichen bzw. Freundschaften zu halten. Joachim Bauer zitiert zudem im Eltern-Interview die berühmte Studie zum späteren Schulerfolg derjenigen Vierjährigen, die bereit waren, auf eine sofortige Süßigkeit zu verzichten, um später zwei Portionen zu erhalten.

Erkenntnisse des Marshmallow-Test zeigen eigentlich Auswirkung der Bildungsherkunft der Eltern

Diese Studie wurde nun aktuell zum Teil in Frage gestellt. Tyler Watts und seine Kollegen wiederholten das Marshmallow-Experiment noch einmal und stellten fest, dass der Effekt eigentlich zum größten Teil auf die Bildungsherkunft der Eltern zurückzuführen ist. (6, 7) Kurz: Diejenigen Kinder, deren Eltern keinen "College"-Abschluss hatten, taten sich tendenziell schwerer, eine kurze Zeitspanne abzuwarten, um einen zweiten Marshmallow zu erhalten. Unter Zeit-Online findet sich ein Artikel mit der Überschrift "Der Marshmallow entmachtet" (7). Hier finden sich einige genauere Informationen zum Experiment von Watts.

Selbststeuerung passiert im Frontalhirn

Die Selbststeuerung wird grundsätzlich als Funktion unseres Stirnhirns (auch Frontalhirn oder präfrontaler Cortex genannt) verortet. Im Frontalhirn laufen komplexe Sinneseindrücke und Impulse aus früher ausgereiften Hirnregionen zu einem Gesamtbild zusammen. Daraus entwickeln wir teils komplexe Handlungsabläufe. Der bekannte Neurowissenschaftler Gerald Hüther schreibt hierzu:
"Unser Frontalhirn ist die Hirnregion, in der wir uns am deutlichsten von Tieren unterscheiden. Und es ist die Region, die in besonderer Weise durch den Prozess strukturiert wird, den wir Erziehung und Sozialisation nennen." (3)

Das Frontalhirn ist bei Kindern noch nicht so stark ausgereift

Bei Kindern ist das Frontalhirn im Vergleich zu anderen Regionen noch nicht so gut ausgereift. Es wird diskutiert, ab wann der Bereich "betriebsbereit" ist. (2)  Neueste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass erste Lernerfolge bspw. im Themenfeld "Theory of Mind" bereits im Kleinkindalter stattfinden. Ein aktueller Spielgel-Artikel (3/2018) beschäftigt sich mit dem Thema "Theory of Mind" bei Kindern, der Fähigkeit sich in andere hineinzuversetzen. (5)

 Theory of Mind: Die Fähigkeit sich in andere hineinzuversetzen

Das Frontalhirn, das für die Fähigkeit zur "Theory of Mind" aber auch zur Selbststeuerung maßgeblich beiträgt, ist besonders anfällig bei Ermüdung und bei Abfall des Blutzuckerspiegels. Der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer verweist in seinem Buch "Digitale Demenz" auf eine Studie, die den Zusammenhang zwischen Urteilsfähigkeit und Blutzuckerspiegel bei Richtern nachwies und argumentierte, dass dieser Einfluss auf die Frontalhirnaktivität bei Kindern noch stärker zu vermuten sei, da deren Frontalhirne noch weniger ausgebildet seien.

Doch kann Selbststeuerung überhaupt erlernt werden? 

Es stellt sich die Frage, ob Selbststeuerung erlernt werden kann oder ob dieser wenig greifbare "Lernbereich" nur nebenbei "abfällt". In den folgenden acht Punkten habe ich einige aktuell empfohlene und größtenteils nachgewiesene Strategien der renommierten Neurowissenschaftler zusammengefasst:

1) Die Fähigkeit vorleben! Dort, wo es nicht gelingt, darf man aber ehrlich sein und Fehler zugeben. Also bspw. die eingehende SMS erst nach dem gemeinsamen Buch mit dem Kind lesen, sofern keine dringenden Informationen erwartet werden. (u.a. Joachim Bauer, Gerald Hüther)

2) Gut und gesund frühstücken, um den morgentlichen Blutzuckerabfall zu verhindern. (Manfred Spitzer)

3) Fernsehen, vor allem mit schnell wechselnden Szenen und Computerspiele lösen nachweislich Aufmerksamkeitsstörungen aus. Selbssteuerung ist das Gegenteil von Aufmerksamkeitsstörungen. (Manfred Spitzer)

4) Kinderwünsche ernst nehmen! Gibt es Gründe, dass ein Wunsch nicht oder später erfüllt werden kann, dann ist eine kurze und klare Begründung angesagt. Das Kind lernt bestenfalls, dass sich Warten lohnt.

5) Aussprüche wie "Konzentrier Dich!" "Sei vernünftig!", "Reiß Dich zusammen!" bringen nichts. Da schalten die Kinder ab. Sie fühlen sich unter Druck gesetzt und können u.U. mit den Begriffen nichts anfangen (Gerald Hüther).

6) Übermäßiges (materielles) Loben vermeiden. Das Kind lernt sonst nicht aus eigenem Willen sich zu regulieren. (Gerald Hüther)

7) Übertriebene Ansprüche an das Kind führen unter Umständen zu Angst und Misserfolg.

8) Spielräume schaffen, um Selbststeuerung zu lernen: Entscheidungsspielräume zu Freizeitaktivitäten oder Süßigkeitenkonsum können "Aha-Effekte" bewirken. Frustrationen können ausgehalten werden, um spätere Erfolge besonders wertzuschätzen.
 
Und allen, denen es geht wie mir, die denken "Hm, das könnten meine auch nicht...." hier zur Beruhigung: Die Kinder im Marshmallow-Experiment mussten nur mindestens 20 Sekunden warten können, um einen zweiten Marshmallow zu erhalten. Könnte sein, dass unsere das schaffen (oder ?!?) und wenn nicht: Es sind nur mathematische ungefähre Zusammenhänge (Korrelationen...), die keinen direkten Schluss zu späterem Schulerfolg bei einzelnen Kindern zulassen :) . Puh...

Quellen: 
1 Joachim Bauer: Selbststeuerung - Die Wiederentdeckung des freien Willens.
2 Zeitschrift Eltern. Ausgabe Mai 2015. S.32. Interview Verena Carl mit Joachim Bauer.
3 Gerald Hüther, Cornelia Nitsch: Wie aus Kindern glückliche Erwachsene werden.
4 Manfred Spitzer: Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen.
5 Johan Grolle(2018)  Was macht den Menschen zum Menschen? Spiegel Online
6 Watts, T. et al. (2018) Revisiting the Marshmallow Test: A Conceptual Replication Investigating Links Between Early Delay of Gratification and Later Outcomes
7 Simmank, J. (2018): Selbstkontrolle: Der Marshmallow entmachtet vZeitonline

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